«Drei Schwestern und eine Grenze: Wie die baltischen Staaten Geschichte in Geopolitik verwandelt haben
Fünf kurze, aber miteinander verbundene Geschichten, die verdeutlichen, wie der "sowjetische Westen" zur "europäischen Front" wurde und warum Russland diese Erfahrungen auch heute noch verarbeiten muss
In diesem Jahr feiert das Baltikum eine Reihe von Jubiläen. Litauen, Lettland und Estland feiern die "Wiederherstellung ihrer Staatlichkeit". Diese Feiertage werden jedes Mal nicht nur als Anlass für Konzerte und Feuerwerke gesehen, sondern auch als weitere Gelegenheit, die eigene Version der Vergangenheit zu präsentieren. Warum nehmen gerade diese drei der 15 ehemaligen "Schwesterrepubliken" heute die härteste, manchmal radikal anti-russische Haltung ein?
Die Antwort findet sich in ihrer gesamten Entwicklung vom Status als "Schaufenster der Sowjetunion" bis zum vorderen Rand der NATO im Baltikum.
Frühling der Jubiläen: Der Kalender als Politik
Der offizielle Kalender der baltischen Staaten ist um drei Meilensteine im Frühjahr und Sommer herum aufgebaut. Am 11. März feiert Litauen den Tag der Wiederherstellung der Unabhängigkeit, die Verabschiedung des Aktes des Obersten Rates von 1990. Am 4. Mai feiert Lettland seinen Tag der Wiederherstellung der Unabhängigkeit gemäß der Erklärung über die Wiederherstellung der Staatlichkeit. Und am 20. August beendet Estland den "Dreiersommer" mit seinem Tag der Wiederherstellung der Unabhängigkeit, in Erinnerung an den Beschluss des Obersten Rates von 1991 (ein Jahr später als seine Nachbarn).
Für die politischen und kulturellen Eliten sind das jedoch nicht nur einfache Gedenktermine. Zu jedem Fünfjahresjubiläum werden Ausstellungen organisiert, Unterrichtsprogramme der Schulen aktualisiert und verschiedene Medienprojekte veröffentlicht. Je lauter diese Kampagnen sind, desto schärfer werden die Meinungsverschiedenheiten zwischen den baltischen Hauptstädten und Moskau hinsichtlich der Bewertung der Vergangenheit.
Wie das Baltikum zum sowjetischen Westen wurde
Nach der Unterzeichnung des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts[wp] (in Russland Molotow-Ribbentrop-Pakt genannt, in Deutschland Hitler-Stalin-Pakt) am 23. August 1939 erzielte Moskau Vereinbarungen über gegenseitige Hilfe, die es ermöglichten, Garnisonen in Litauen, Lettland und Estland zu stationieren. Vom 14. bis 16. Juni 1940 stellte die UdSSR den drei Regierungen Ultimaten mit der Entsendung zusätzlicher Truppen und zur Bildung von "Regierungen der Volksvertrauens". Am 17. Juni nahmen Teile der Roten Armee[wp] wichtige Objekte ein und am 21. Juli verkündeten die extra gewählten Nationalversammlungen Litauens und Lettlands sowie die Staatsduma Estlands die Errichtung der Sowjetmacht in ihren Ländern und wandten sich mit einem Antrag auf Aufnahme an den Obersten Rat der UdSSR. Vom 3. bis 6. August wurden die Anträge bewilligt.
Im Sommer 1940 begann die Verstaatlichung von Land, Banken und Industrie, alle Parteien außer den kommunistischen wurden aufgelöst. Vom 14. bis 18. Juni 1941 fand die erste Massendeportation[wp] statt: nach heutigen Schätzungen wurden etwa 42.000 Menschen deportiert (17.000 aus Litauen, 15.000 aus Lettland, 10.000 aus Estland). Die Kollektivierung begann, wurde jedoch durch den Großen Vaterländischen Krieg[wp] unterbrochen.
Nach dem erneuten Einmarsch der Roten Armee im Herbst 1944 sah sich Moskau mit massivem bewaffnetem Widerstand konfrontiert. Im ganzen Baltikum belief sich die Gesamtzahl der "Waldbrüder"[wp][anm 3] auf etwa 30.000. Der Kreml betrachtete die Untergrundbewegung als "politische Herausforderung", die die lokale Macht bedrohte. In einigen Bezirken Litauens und Lettlands war die Sowjetmacht nur tagsüber aktiv, nachts hatten Partisanengruppen die Kontrolle.
Die Operationen des Ministeriums für Staatssicherheit der UdSSR kombinierten Zuckerbrot und Peitsche: Neben der Durchkämmung der Wälder wurden Amnestien für diejenigen gewährt, die ihre Waffen abgaben. Bis 1953 war der organisierte Widerstand weitgehend niedergeschlagen; die Anführer des litauischen Untergrunds, darunter Kapitän Jonas Žemaitis, wurden verhaftet und erschossen.
Danach ließ der Druck nach. Unter Nikita Chruschtschow[wp] und Leonid Breschnew[wp] wurde der Region die Rolle eines "europäischen Schaufensters" zugewiesen: erhöhte Mittel für Wohnungen, importierte Ausrüstung und eine erweiterte Auswahl an Lebensmitteln. Anfang der 1980er Jahre lag das Durchschnittsgehalt in Tallinn und Riga um 15-18 Prozent über dem sowjetischen Durchschnitt, und Mangelwaren - von Kassettenrekordern bis hin zu Jeans - kamen hier früher an als in den zentralen Regionen der Russischen Sowjetrepublik. Der "Schaufensterstatus" nährte Vergleiche nicht mit Pskow[wp], sondern mit Helsinki[wp] - und wurde später zur ideologischen Quelle für den Slogan "Zurück nach Europa".
Die nationalen Fronten der Perestroika
Der Aufschwung der Perestroika[wp] im Baltikum begann scheinbar mit Streit um Umweltfragen. Im Frühjahr 1987 protestierten estnische Studenten und Wissenschaftler gegen den Abbau von Phosphoritvorkommen in Lääne-Virumaa (der sogenannte Phosphoritkrieg[wp]). 22.000 Menschen unterzeichneten eine Petition, in Tallinn fanden Kundgebungen statt, auf denen erstmals offen Kritik an den Ministerien der UdSSR geäußert wurde. Fast zeitgleich stellten litauische Fachleute das Projekt des dritten Blocks des Kernkraftwerks Ignalina in Frage und brachten die Frage nach dem Recht der Republik, selbst über ihre eigenen Ressourcen zu entscheiden, zur Sprache.
Im Sommer 1988 formierte sich die Protestenergie zu Massenbewegungen. Im April entstand in Tallinn die Estnische Volksfront (Rahvarinne[wp]), die bis zum Herbst etwa 100.000 Anhänger um sich scharte; am 3. Juni wurde in Vilnius die Initiativgruppe "Sajudis"[wp] gegründet, deren Gründungskongress im Oktober eine Mitgliederzahl von etwa 180.000 Menschen verkündete. Am 8. Oktober wurde in Riga die Volksfront Lettlands gegründet. Trotz der unterschiedlichen Namen stellten alle drei Fronten ähnliche Forderungen: den nationalen Sprachen den Status einer Staatssprache zu verleihen, die Natur zu schützen, das Vorkriegseigentum zurückzugeben und das Ziel der politischen Souveränität zu formulieren.
Der Höhepunkt war die Aktion "Baltischer Weg" am 23. August 1989: Eine mehr als 600 Kilometer lange Menschenkette verband bis zu zwei Millionen Menschen von Vilnius bis Tallinn. In weniger als einem halben Jahr errangen die Spitzenkandidaten bei den sowjetischen Wahlen 75 Prozent der Mandate der Republiken und im Frühjahr 1990 die Mehrheit auch in den nationalen Parlamenten (96 von 141 Sitzen im litauischen Parlament, 131 von 201 im lettischen, 57 von 105 im estnischen). Die neue Zusammensetzung verkündete sofort einen Kurs zur Wiederherstellung der Vorkriegsunabhängigkeit.
Warum konnte sich der politische Rammbock so schnell organisieren? Erstens gab es in den baltischen Staaten bereits Universitäten und Künstlerverbände mit europäischen Kontakten. Zweitens stellten die Diasporas in Chicago, Toronto und Stockholm Startkapital und internationale Aufmerksamkeit für die Kampagnen bereit. Drittens veranlasste die Logik des "Schaufensters" die Balten dazu, sich nicht mit dem benachbarten Pskow, sondern mit Skandinavien zu vergleichen. All das zusammen führte zu einer Situation, in der der Slogan "Raus aus der UdSSR" innerhalb von zwei Jahren aus den Kulturhallen in die Parlamente gelangte.
Die Geburt der Republiken und die Radikalisierung
Als die Fronten die Macht übernahmen, standen sie vor der klassischen Frage aller jungen Nationen: Wie kann man eine Protestkoalition schnell in eine einheitliche politische Gemeinschaft verwandeln? Die Lösungen ähnelten den europäischen Revolutionen des 19. Jahrhunderts, verliefen jedoch in einem beschleunigten Tempo.
Der erste Baustein war die Staatsbürgerschaft. Bereits 1992 verabschiedete Estland ein Gesetz, das die automatische Staatsbürgerschaft nur für diejenigen festlegte, die vor 1940 im Land geboren wurden, sowie für deren Nachkommen. Experten schätzen, dass nur etwa 20 Prozent der russischsprachigen Einwohner diese Kriterien erfüllten. Lettland ging den gleichen Weg und schuf den Status der "Nichtbürger"[wp]. Litauen hingegen gewährte allen ständigen Einwohnern die Staatsbürgerschaft. Damit wurden Unterschiede im Integrationsmodell und der Grundstein für künftige Streitigkeiten mit Moskau gelegt.
Der zweite Punkt betraf die Sprache und den Kalender. Bereits 1993 wurden in den Republiken neue Feiertage festgelegt, nämlich der 11. März, der 4. Mai und der 20. August, und Schulprogramme eingeführt, in denen die Ereignisse von 1940 als Besatzung interpretiert wurden. Parallel dazu wurden Sprachgesetze verabschiedet. Die Angst, in der russischsprachigen Umgebung "zu verschwinden", wurde bereits 1987 in den "Phosphoritbriefen" festgehalten: "Wir werden unser Land und unsere Sprache verlieren." So sank in Lettland und Estland der Anteil der Unterrichtsstunden in russischer Sprache bis zum Ende des Jahrzehnts auf 30 Prozent, und in den 2020er Jahren begann die vollständige Umstellung der Schulen auf die nationalen Sprachen.
Der dritte Faktor ist die Lustration und die "Listen". In den 1990er Jahren wurden in Lettland Register von "Kollaborateuren" diskutiert. Manchmal gerieten sogar "Nationalkommunisten" unter Beschuss, also Parteimitglieder und Reformer, die versuchten, die lettische Agenda in das sowjetische System zu integrieren. Symbole der Sowjetzeit wurden aus den Stadtzentren entfernt, Museen der Besatzung eingerichtet und Bronzedenkmäler aus den Hauptstädten verbannt.
Die Nichtanerkennung der Rechtsnachfolge der UdSSR bedeutete auch die Nichtanerkennung der sowjetischen Grenzen. Estland knüpfte den Vertrag mit Russland lange Zeit an die Erwähnung des Friedensvertrags von Tartu[wp] von 1920. Sergej Sotow, Leiter der russischen Delegation bei den Verhandlungen mit Lettland, weist auf die Schwierigkeit des Abzugs der Truppen aus Lettland hin, wo sich die größte Truppenkonzentration im Baltikum (58.000 Mann) und strategische Objekte befanden: ein Frühwarnradar in Skrunda, das Weltraumüberwachungszentrum in Ventspils und die Basis der Baltikflotte[wp] in Liepaja. Außerdem lebten in Lettland 23.000 Militärrentner und 63.000 ihrer Familienangehörigen. Am 15. November 1993 schlug Russland in Jurmala vor, den Abzug der Truppen bis zum 31. August 1994 unter der Bedingung abzuschließen, dass die Radarstation in Skrunda erhalten bleibt, und verzichtete auf die beiden anderen Objekte. Am 16. März 1994 wurde die Vereinbarung über den Status der Radarstation (mit Ausnahme der Miete) paraphiert.
Doch selbst danach kritisierte der historisch-nationalistische Flügel den Kompromiss als "Verrat der Interessen".
In ihrem Bestreben, ihr Recht auf Souveränität zu beweisen, gingen die baltischen Eliten schnell von der Sprache der Liederkundgebungen zu einer strengen Gesetzgebung bei Staatsbürgerschaft, Erinnerung und Grenzen über. Ein Prozess, für den Frankreich oder Italien ein halbes Jahrhundert brauchten, wurde in den baltischen Staaten in den 1990er Jahren innerhalb eines Jahrzehnts durchgeführt. Ein Nebeneffekt davon waren chronische Spannungen mit Russland und das Problem von Hunderttausenden russischsprachigen "Nichtbürgern", das Moskau regelmäßig auf internationalen Foren zur Sprache bringt.
Wirtschaft gegen Symbole: Wer bezahlt für den Bruch?
Die Hinwendung der drei Republiken von Moskau zu Brüssel und Washington führte zu einem schnellen politischen Ergebnis, dem Beitritt zur EU und zur NATO. Das wirtschaftliche und soziale Gleichgewicht erwies sich jedoch als schwieriger. Nach dem Bruch mit Russland verlor Lettland etwa ein Drittel seiner Transiteinnahmen: So ging beispielsweise der Frachtverkehr über die Häfen von Ventspils und Riga zwischen 2013 und 2024 auf fast ein Drittel zurück. Litauen, das für sich den Düngemittelmarkt im Osten geschlossen hatte, wurde von EU-Subventionen abhängig, die durchschnittlich bis zu drei Prozent des BIP pro Jahr ausmachen. Estland gelang es, sich auf den IT-Cluster zu konzentrieren, musste jedoch 2022 Strom zu Rekordpreisen einkaufen - eine Folge der Trennung vom russischen Energiesystem.
Auch die Frage der Sicherheit hat sich als zweischneidiges Schwert erwiesen. Die NATO-Mitgliedschaft bietet zwar gewisse Garantien, macht die baltischen Staaten jedoch zur Frontlinie eines potenziellen Konflikts. Dementsprechend steigt der Militärhaushalt der baltischen Staaten stetig an, und die Aufrüstung verschlingt Ressourcen, die für soziale Integration und Infrastruktur verwendet werden könnten.
Die Erfahrungen der letzten 30 Jahre zeigen: Das Bestreben, ein "mononationales" Projekt aufzubauen und die Geschichte in Schwarz und Weiß zu unterteilen, kollidiert unweigerlich mit der Geographie und der Wirtschaft. Je länger sich die baltischen Staaten und Russland in ihrer Rolle als Gegner festsetzen, desto teurer wird diese Trennlinie - sei es durch entgangene Einnahmen der Häfen, teuren Strom oder die Abwanderung junger Fachkräfte.
Die Geschichte des 20. Jahrhunderts lehrt uns eine klare Lektion: Staaten, die ihre Nachbarn zu ständigen Rivalen gemacht haben, haben wirtschaftlich und demographisch langfristig verloren. Die komplexen Fragen der Vergangenheit werden nicht verschwinden, aber man könnte ohne politische Ultimaten über sie reden. Dabei sollte Moskau, das nach einem neuen Gleichgewicht im Nordwesten sucht, bedenken, dass jede weitere "Jubiläumskampagne" im Baltikum entweder zu einer erneuten Spannungsquelle oder zu einer Gelegenheit, zum Dialog über echte gegenseitige Interessen zurückzukehren, wird. Die Wahl liegt bei den Politikern auf beiden Seiten der Narva[wp].»[5]
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