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Russland im Zangengriff - Putins Imperium zwischen Nato, China und Islam

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Russland im Zangengriff - Putins Imperium zwischen Nato, China und Islam ist ein Dokumentarfilm von Peter Scholl-Latour, den er 2006 für das ZDF produzierte.

[Musik: Sowjetische Nationalhymne]

Man versetze sich in die Lage der russischen Patrioten: die NATO dehnt ihren militärischen Einfluss über die willfährige Ukraine bis zum Don[wp] aus. In Fernost blickt Moskau voll Sorge auf seine menschenleere Taigaregion und die boomende Großmacht China jenseits des Amur[wp]. Dazu kommt innerhalb der eigenen Grenzen ein muslimischer Bevölkerungsanteil von 20 Millionen, der seine Identität im koranischen Glauben sucht.

(1:10) Kiev, die Hauptstadt der unabhängigen Republik Ukraine, galt stets als Mutter der russischen Steppe. Hier hatte sich nach der Bekehrung zur christlichen Orthodoxie vor 1000 Jahren die Geburt des russischen Staatswesens vollzogen. Die Rurikiden[wp]-Dynastie, Nachfolger des Kiever Großfürsten Wladimir[wp], herrschte ein halbes Jahrtausend bis zum Tod Iwans des Schrecklichen[wp] über das Moskowiter-Reich[wp], das sich den Titel "Drittes Rom" zugelegt hatte. Für Wladimir Putin ist der Abfall der Ukraine schwer erträglich.

(2:10) Jeder erinnert sich an die stürmische Begeisterung der Orange Revolution[wp] auf dem Maidan von Kiev, die dem Separatismus zum Sieg verhalf. Die Helden dieser national­ukrainischen Volkserhebung, an ihrer Spitze Präsident Wiktor Juschtschenko[wp], haben seitdem ihr Prestige eingebüsst. Seine Partei Nascha Ukrajina[wp] kam bei der jüngsten Parlamentswahl auf kümmerliche 13 Prozent.

(2:50) Vor allem hat sich inzwischen bestätigt, dass das Ausharren der revolutionären Masse in klirrender Kälte durch massive Unterstützung Amerikas und der Europäischen Union finanziert und ermöglicht wurde. Die Agenten der CIA, als NGO getarnt, haben in Kiev eine systematische Subversion[wp] des bestehenden Regimes betrieben. Ähnliches wurde ja auch in der benachbarten Republik Belarus versucht.

(3:22) Als wirkliche Siegerin der Unabhängigkeits­bewegung hat sich eine blonde energische Frau erwiesen, Julija Tymoschenko[wp]. Als Gasprinzessin wurde diese Oligarchin verspottet, als slawische Evita Perón[wp] wird sie bewundert. Der endgültige Kampf um die Ausübung der Macht ist in Kiev längst nicht entschieden.

(3:58) Zum politischen Bruch hat sich das religiöse Schisma gesellt. Unter dem selbst­ernannten Patriarchen Filaret[wp] hat sich die orthodoxe Kirche der Kiewer Rus[wp] aus der Bevormundung des Moskauer Patriarchats[wp] gelöst. Von Anfang an hatte sich der ukrainische Nationalismus auf die mit Rom unierten griechisch­katholischen Gläubigen Ostgaliziens gestützt. Mit der Abspaltung Filarets wird die Autorität des Moskauer Kirchenfürsten Alexei[wp] auf die russischen Kernlande begrenzt.

(4:50) Gegengewicht und Kontrast zu Kiev bildet im Osten der Ukraine das Industrierevier Donbass mit der Stadt Donezk, die einmal Stalino hieß. In dieser Landschaft von Stahlwerken und Zechen ist die Erinnerung an den Großen Vaterländischen Krieg[wp] längst nicht verblasst. Die Masse der Bevölkerung bekennt sich zur russischen Nationalität. Im Donbass wird das ganze Ausmaß der atlantischen und europäischen Bestrebung deutlich, die Grenzen Russlands in Richtung auf die Wolga und die asiatische Steppe zu verschieben.

(5:40) Nach dem Verlust der Ukraine sei Russland dazu verurteilt, ein überwiegend asiatisches Imperium zu werden, so verlocken bereits einige einflussreiche Ideologen in Washington und viele Europäer schließen sich diesem neuen Drang nach Osten der NATO an. Aber zumindest die Deutschen müssten wissen, dass nur 300 Kilometer von dieser Grenze des Donbass entfernt eine Stadt liegt, die Stalingrad[wp] hieß. Und noch einmal 100 Kilometer nach Osten beginnt das Territorium der zentral­asiatischen und überwiegend muslimischen Republik Kasachstan.

(6:20) Welche strategischen Absichten, welche kapitalistischen Interessen, welch dilettantischer Leichtsinn verbergen sich hinter diesem Ritt nach Osten, zu dem die atlantische Allianz und in deren gehorsamen Gefolge die Europäische Union angetreten sind? Es geht in diesen Weiten, wo die Toten des Zweiten Weltkrieges noch nicht zur Ruhe kamen, nicht nur um die Ukraine, sondern um Weißrussland, Moldova und die kaukasischen Republiken. Sind sich Ölmagnat und Vizepräsident der USA Dick Cheney[wp] und leider auch der redliche Senator John McCain[wp] überhaupt bewusst, wie konsequent sie sich mit ihren Expansions­plänen den neuen Zaren Wladimir Putin zum Feind machen? Spüren die schadronierenden Europa­abgeordneten nicht, dass sie in Restrussland ein nationalistisches Aufbäumen schüren. Oder soll am Ende zwischen Smolensk[wp] und Wladiwostok[wp] das Chaos entstehen?

(7:43) Im Donbass-Revier, in den Großstädten Donezk und Lugansk, hält sich die Empörung noch in Grenzen. Der 1. Mai wurde hier zur nostalgischen Feier hoch dekorierter Veteranen. Die Internationale[wp] wurde mit schütterer Stimme gesungen. Im Donbass-Revier ist die prorussische Oppositionen unter ihrem kraft­strotzenden Führer Viktor Janukowitsch mit über 30 Prozent der Stimmen stärkste Partei der Ukraine geworden. Der wirkliche Herrscher jedoch ist der reichste Mann des Landes, der tatarische Milliardär Rinat Achmetow[wp], der die politischen Fäden zieht. Der knapp vierzig­jährige Oligarch lässt sich nicht gerne filmen, hingegen zeigt sich dieser mächtigste Magnat der Ukraine gern und stolz inmitten seines Fußballvereins Schachtar[wp].

(9:10) Wenn ukrainische Chöre in Donezk auftreten, wird deutlich, dass auch die Partei der Regionen[wp] nicht unbedingt den Anschluss an Moskau sucht, hingegen drängt sie auf die Gleichberechtigung der russischen Sprache neben dem ukrainischen, sowie auf eine weitgehende Autonomie von Kiev. Ganz unverhüllt erweisen sich in der ganzen Ukraine die Oligarchen, die Profiteure beim Ausverkauf der Perestroika[wp] als die wirklichen Potentaten. Diese neuen Feudalherren haben erkannt, dass sie auf das Wohl der ihnen anvertrauten Bevölkerung achten müssen. So findet im Donbass-Revier unter Achmetow zweifellos ein bescheidener wirtschaftlicher Aufschwung statt. Und Amerika ist mit McDonald und Coca-Cola allgegenwärtig.

(10:12) Anders als die Menschen in den vielen verlassenen Dörfern machen die Freizeitler im Lunarpark von Donezk keinen unglücklichen Eindruck. Natürlich wird auch hier wie in der Shopping-Mall Goldener Ring der geschmacklose Luxusdrang der Neureichen befriedigt. Wie sagte doch der ins Exil geflüchtete russische Oligarch Beresowski[wp] "Demokratie ist die Herrschaft des Geldes."

(10:54) Im Süden grenzt der Donbass an die graue Flut des Asowschen Meeres[wp]. In Mariupol wird der Reichtum des Landes verfrachtet und die Fabriken dampfen. Das Binnenmeer von Asow wurde erst durch Katharina II.[wp] im 18. Jahrhundert von der Herrschaft der muslimischen Krimtataren freigekämpft. Über ganz Russland verstreut findet man noch die Spuren dieser muslimischen Kriegerrasse der Tataren[wp]. So wendet sich der Blick auf Kasan[wp] an der mittleren Wolga, auf die Hauptstadt der autonomen Republik Tatarstan[wp]. Es ist symbolisch, dass der dortige Kremel, der 1552 von Ivan dem Schrecklichen im Namen der christlichen Orthodoxie dem Joch der islamischen Mongolen entrissen wurde, heute wieder durch die gewaltige Kuppel einer strahlend blauen Moschee überragt wird. Die Greuel des Krieges in Tschetschenien[wp] sind der autonomen Republik Tatarstan erspart geblieben. Man hat sich irgendwie arrangiert zwischen Kasan und Moskau. Und die Muslime hier wissen, dass die Zeit für sie arbeitet. Denn heute leben 20 Millionen Korangläubige in der Russischen Föderation und die neben gewaltig zu, während die slawische Bevölkerung auf dramatische Weise absinkt.

(12:45) In der Freitagsmoschee, die mit Geldern aus der ganzen islamischen Welt finanziert wurde, findet zweifellos eine religiöse Wiedergeburt statt. Aber diese Beter, die aufgrund einer jahrhunderte­langen Vermischung von den Russen kaum zu unterscheiden sind, lehnen zumindest in der Öffentlichkeit jede Gemeinsamkeit mit den Extremisten oder Jihadisten ab.

Ihr Imam predigt sogar einen modernisierten Euroislam, wobei er jedoch auch der friedlichen Islamisierung Europas eine Chance geben möchte. Die relative Modernität der koranischen Auslegung in Kasan ruht in einer Tradition, die auf das 19. Jahrhundert zurückgeht und die Dschadidismus[wp] genannt wird. Das hindert die Gläubigen von Tatarstan nicht, die mehr als die Hälfte der Bevölkerung ausmachen, ein starkes religiöses Selbstbewusstsein zu entfalten. Vor allem mit Hilfe türkischer Gönner, denen sie auch ethnisch nahstehen, sorgen sie für den Bau von Moscheen überall dort in Russland, wo die 20 Millionen Muslime leben.

(14:22) Noch im Jahr 1991 hatten einige tatarische Nationalisten, die mit Stolz auf ihre 200-jährige Herrschaft über ganz Russland zurückblicken, die Unabhängigkeit ihrer Republik gefordert. Davon sind sie unter dem Druck Putins wieder abgekommen und begnügen sich mit einer schwammig definierten Souveränität.

Die Hoffnung des tatarischen Präsidenten Schaimijew[wp], den Erdöl- und Erdgas­reichtum für seine Landsleute zu vermarkten, ist von Moskau durchkreuzt worden. Von den ausgedehnten Fabrikanlagen und Pipelines profitiert Kasan nach Ansicht der Tataren nur unzureichend. Schon munkelt man vom Eindringen radikaler islamistischer Kräfte, die über die benachbarte autonome Republik Baschkortostan[wp] eine territoriale Verbindung zu Kasachstan herstellen möchten.

(15:37) Im äußersten fernen Osten Russlands, an der vereisten Bucht von Ochotsk[wp] gegenüber von Kamtschatka[wp], befindet sich die Stadt Magadan[wp]. Sie liegt fast 10.000 km von Moskau entfernt. Hier öffnete sich einst das Tor zur Hölle. Ein plumpes Denkmal, "Maske der Trauer" genannt, soll an die zahllosen Opfer des stalinistischen Gulag[wp]-Systems erinnern. Die Goldminen von Kolyma[wp], die heute übrigens von amerikanischen Firmen ausgebeutet werden, und der Bau der endlosen Polarstraße nach Jakutsk[wp] haben ganze Leichenberge hinterlassen.

Die Dörfer der ehemaligen Sträflinge, auch die Städtchen Ola und Gadlia, sind verwaist. An diesem Ende der Welt fließen keine staatlichen Zuschüsse mehr. Die Reise ins europäische Russland wird den Pionieren nicht mehr vergütet. Das ohnehin kaum besiedelte Land ist dabei, sich total zu entvölkern. Man wird nicht alt in Magadan. Der Wodka und neudings die Drogen sorgen dafür, dass zumindest die Männer in der Regel nicht älter als 60 Jahre werden. Auf den ersten Blick bietet die Stadt Magadan einen positiven Gegensatz. Doch in Wirklichkeit ist diese Häusermasse, in die unlängst eine goldene orthodoxe Kathedrale eingefügt wurde, das exklusive Spielfeld der Mafia und des Verbrechens. Von der Wand, der von ihren Einwohnern verlassen Plattenbauten, blickt ein düsterer Lenin auf der Scheitern seines angeblich welterlösenden Experiments. Die sensationellste Einrichtung Magadans ist eine riesige Disco, "Müllkippe" genannt, wo die Reichen Gangster sich jede Extravaganz leisten. Hier schnaubt ein riesiger Drache aus Metall und stößt Rauch aus. Hier ist der Terminator in Titan nachgebildet. Am Billardtisch treffen sich die Ganoven. Die extrem jungen Mädchen führen ihre Verrenkungen in dürftiger Bekleidung auf. In diesem Rahmen von Magadan kommt der Gedanke an die Stadt Mahagonny[wp] auf, die Bertold Brecht[wp] einst beschrieb. Aber es gibt auch ganz überraschend eine stattliche katholische Kirche. Die wenigen jungen Gläubigen sind meist polnischer Herkunft. Der dynamische Priester aus USA gehört der Gesellschaft des Heiligen Charles de Foucauld[wp] an. Es kann nicht ausbleiben, dass dieser sympathische Geistliche verdächtigt wird, im Dienste der CIA zu stehen.

(19:53) Die Masse Chinas lastet auf der russischen Fernost-Provinz. Aber auch die Amerikaner sind zugegen, vor allem in den Bergwerken und manche fragen sich ja in Washington, ob die Zukunft der USA sich nicht am Rande des Westpazifik und in dem gewaltigen Nordostblock Asiens befindet. Doch wenn man am Rande des Ochotsk-Meers[wp] steht, dahinter die erschreckende Weite des Kontinents, dann kommt die Frage auf, ob Amerika nicht einem geopolitischen Irrtum erliegt.

Die Chinesen sind bereits in dieser arktischen Umgebung zugegen, aber nur als Händler auf dem ausgedehnten Chinesenmarkt. Da wird zwar nur drittklassige Ware angeboten, doch die russische Kundschaft drängt sich an den Ständen. China steht im Begriff, sämtliche Konsum­bedürfnisse der russischen Bevölkerung zwischen Baikalsee[wp] und Kamtschatka[wp] abzudecken, jeden Sektor zu beliefern, ein Monopol des Handels zu erringen. Das schafft zweifellos Abhängigkeiten, aber auch Verbindung. Von einer massiven chinesischen Immigration kann in dieser eisigen Region nicht die Rede sein. Aber eine instinktive Angst sitzt tief in den hier noch ansäsigen Russen. Aus einem gelben Tropfen, so sagen sie, könnte eines Tages ein gelbes Meer werden.

(21:32) Wladiwostok, Beherrscher des Ostens, so wurde dieser Kriegshafen in der Pazifikregion Primorje[wp] von den übermütigen Zaren in Sankt Petersburg benannt. Es ist eine graue Stadt an einem grauen Meer. Die Bucht, die einst die Flotte unter dem Andreaskreuz beheimatete trägt den absurden Namen Goldenes Horn. Heute ankern außer ein paar alten Zerstörern die Kriegsschiffe der russischen Pazifikflotte im nahen Hafen Nachhotka.[1] Auch in Wladiwostok sind nach den Plattenbauten der Chruschtschow-Zeit[wp] ansehnlichere Hochhäuser gebaut worden, aber die Tristesse will nicht weichen. Und die müßige Jugend, die an Ausreise ins europäische Russland denkt, hat schon morgens die Alkohol­flasche zur Hand. Natürlich hat auch Wladiwostok seinen Chinesenmarkt, in dem sich alle nur denkbaren Geschmacklosigkeiten stauen, was aber offenbar die Kauflust nicht hemmt.

Die Händler aus dem Reich der Mitte sind an ziemlich strickte Aufenthalts­regelungen gebunden, die allenfalls durch Bestechung verlängert werden. Im Straßenbild, das noch Spuren der zaristischen Architektur der Gründerjahre zeigt, sind weniger Asiaten zu finden als in manchen Städten Europas. Die russische Folklore wird am Ende noch durch einen einsamen Straßen­musikanten am Eingang des Chinesenmarktes repräsentiert. Traurigkeit liegt über Wladiwostok.

(23:55) Ein endloses Parkgelände gebrauchter japanischer Autos. Auf diesem Sektor ist Tokio der wichtigste Handelspartner. Für den Gegenwert von 3000 Euro ist hier ein durchaus fahrtüchtiger Honda oder Toyota zu erwerben, der nicht älter als zwei Jahre ist. Natürlich liegt auch dieses Geschäft in den Händen von Mafia-Gruppen, die sich nicht einmal zu tarnen suchen.

(24:37) Unsere Fahrt nach Nordwesten zum Ussuri[wp], der die Grenze nach China bildet, verfolgt einen besonderen Zweck. Wir wollen an Ort und Stelle nachprüfen, ob die Behauptung eine massive chinesische Einwanderung, eine gelbe Überflutung fände statt, der Wahrheit entspricht. Es wurde sogar die Zahl von 3,5 Millionen Asiaten genannt. Auch am Ussuri liegen die trostlosen Dörfer der russischen Kolonisten öde und verlassen. An ihre Stelle sind keine neuen Siedler getreten. Diese traurige Landschaft, diese friedliche Trostlosigkeit lassen gar nicht den Gedanken aufkommen, dass einmal auf beiden Seiten der Grenze Befestigungen angelegt wurden und Kriegsstimmung herrschte.

Im Winter 1969 hatten hier am Ussuri bei klirrendem Frost heftige Gefechte stattgefunden zwischen sowjetischen Grenztruppen und den chinesischen Rotgardisten der Kulturrevolution. Angeblich ging es um den Besitz der Damanski-Insel[wp], aber in Wirklichkeit war es ein Kräftemessen zwischen den beiden kommunistischen Giganten Asiens.

Moskau drohte damals mit der Atombombe und Mao Zedong[wp] ließ in aller Eile gewaltige Tunnel unter Peking anlegen.

Überaus reges Leben entfaltet sich in der Grenzstadt Pogranitschny[wp], wo nicht der Kriegsgott Mars, sondern der Gott des Handels Merkur die Stunde regiert. Heute sind es weniger die Chinesen, die mit ihren Warenlasten hier eintreffen, um sie an Ort und Stelle zu verschärbeln. Die Russen reisen in die benachbarte Stadt Suifenhe[wp] und schleppen mühsam ihre blaue­streiften riesigen Ballen, um sich ein Minimum an Wohlstand oder zumindest das Überleben zu sichern.

(26:59) Es ist ein deprimierendes aber aufschlussreiches Bild, diese weißen Eroberer von einst, in die Rolle von Kulis versetzt zu sehen. Die Szene sagt viel aus über die künftigen Beziehungen zwischen den beiden ehemals kommunistischen Nachbarn. Auf der chinesischen Seite in Suifenhe führt uns die überaus dynamische Verwaltung eine exakte Planungs­makette des internationalen Ausstellungs- und Handels­zentrums vor, das grenz­überschreitend dem russischen Bedürfnis nach etwas Komfort und dem chinesischen Drang nach Gewinn entgegenkäme. Zwischen ultramodernen Handelsbüros, Sport­anlagen und Vergnügungs­teichen ist sogar der Bau eines Fünf-Sterne-Hotels vorgesehen. Die Öffnung der Grenze, die hier stattfindet, deutet ein gegenseitiges Vertrauens­verhältnis an, dass man an dieser Stelle am wenigsten erwartet hätte. Schon heute zeichnet das Verwaltungs­zentrum der Stadt Suifenhe eine Silhouette, die uns in ihrer Modernität total überrascht, und die armseligen Häuser von einst in den Schatten drängt.

(28:32) Daneben gibt es riesige Kaufhallen für die in Scharen anrückende russische Kundschaft. Im Bahnhofsgebäude, wo der Zug nach Pogranitschny seine Rückfahrt antritt, stapeln sich wieder die blau gestreiften Ballen. Was Russland zu liefern hat, ist an den endlosen Wagonreihen zu erkennen, die das Holz der sibirischen Wälder ins Reich der Mitte transportieren. Rohstoff gegen Fertigwahre, so lautet das für beide Seiten ersprießliche Austausch­rezept.

(29:15) Auf der Weiterfahrt in die Manschurei wird die Diskrepanz der Entwicklung deutlich. Während in Russland die ungenutzte Weite der wuchernen Steppe überlassen bleibt, wird in der chinesischen Nordost­provinz jeder Flecken fruchtbaren Bodens für den Ackerbau urbar gemacht. Um diese Jahreszeit ziehen sich endlose Furchen bis zum Horizont. Noch zählt diese Provinz Heilongjiang[wp] laut offizieller Pekinger Einschätzung zu den unter­entwickelten Gebieten Chinas, aber die dortigen Bauern verspüren merkliche Fortschritte. Am Rande der Strecke entdecken wir eine uniformierte Schülerschar, die in Reih und Glied angetreten ist.

Wer der Ansicht ist, die fortschreitende Verwestlichung Chinas führe im Unterrichtswesen zu ähnlich turbulenten Verhältnissen wie in manchen deutschen Schulen, hat sich gründlich geirrt. Die Lehrer wachen hier über konfuzianische Disziplin und die Schüler, von brennendem Ehrgeiz besessen, fügen sich widerspruchslos in das strenge System.

(30:48) In Shenyang[wp], der Hauptstadt der Provinz Liaoning[wp], entfaltet sich die Dynamik des ungeheuerlichen chineschen Wirtschafts­wunders. Die urbanistische Expansion hat sich hier so rasant und gewalttätig vollzogen, dass sie geradezu bedrückend wirkt. Allein in der relativ kleinen Provinz Liaoning leben 42 Millionen Chinesen, während die unendliche russische Fernostregion bestenfalls sieben Millionen Menschen zählt.

(31:33) In Shenyang, das zur Zeit des russischen Einflusses um 1900 Mukden hieß, scheut man sich nicht, mit den Städten Amerikas verglichen zu werden, ja, man möchte sie übertreffen. Die Chinesen haben keine Komplexe gegenüber der amerikanischen Supermacht. Das wird sogar im Detail deutlich. Auf dieser pitoresken und amüsanten Hochzeitsfeier, wo ein US-Amerikaner ungarischer Herkunft eine Chinesin freit. Das ostasiatische Ritual, dem das Paar ungelenk huldigt, ruft bei Familien­angehörigen und Gästen helle Heiterkeit hervor.

In der Verbotenen Stadt von Shenyang, die dem Pekinger Vorbild ähnlich ist, lebten die Vorfahren jener Qing-Dynastie[wp], die bis 1911 über das Reich der Mitte herrschte. Von dieser Stadt Shenyang aus haben im 17. Jahrhundert die Ban-Mandschu(?) ganz China erobert und einer ihrer großen Kaiser Jialon[wp](?) verschaffte dem Reich der Mitte seine größte territoriale Ausdehnung. Dazu gehörten damals auch große Teile Ostsibiriens und vor allem jene russische Fernostprovinz, die die Zaren im 19. Jahrhundert durch Waffengewalt und durch die ungleichen Verträge[wp] an sich rissen. Es könnte jedoch sein, dass die Frage der Zugehörigkeit dieser menschenleeren Gebiete sich eines Tages neu stellt. Vielleicht ist es kein Zufall, dass in Shenyang weiterhin eine gewaltige Statue Mao Zedongs mit den Wolkenkratzern der Neuzeit wetteifert. Die Figuren zu seinen Füßen zeichnen ein Bild von China, das Schrecken verbreiten soll.

(34:00) Achtspurige Autobahnen, das wird nur selten zur Kenntnis genommen, durchziehen heute China von West nach Ost, von Nord nach Süd. Am Ende unserer Rute nimmt die Stadt Dalian[wp] eine besondere Bedeutung ein. In ihre unmittelbare Nachbarschaft liegt die ehemals russische Festung Port Arthur[wp]. Dalian ist zum Schwerpunkt der Pekinger Pazifik­strategie und ihrer maritimen Ambition geworden. Obwohl in Dalian unter strengster Geheimhaltung die militärische Zukunft Chinas gestaltet wird - eine potenzielle Gegnerschaft, die sich heute mehr gegen Amerika als gegen das geschwächte Russland richtet - bietet das Zentrum der Stadt einen fröhlichen, ausschweifenden Jahrmarkt. Fast glaubt man sich nach Disneyland versetzt. Auf einer Tribüne tragen zur Freude des Publikums Karaoke-Sänger amerikanische Schlager auf Chinesisch vor. Der Durch­schnitts­einwohner gibt sich der bevorzugten Leidenschaft der Chinesen, dem Essen hin. Bei Nacht entfaltet sich in dieser Hafenmetropole eine gleißende Lichterpracht. Hier scheint man fern zu sein von allen weltpolitischen Sorgen und Ängsten.

(35:48) Chinesen und Russen haben offenbar beschlossen, jede Form von feindseliger Konfrontation zu vermeiden. Das zeigt sich bei einem verblüffenden Spektakel. Die Streitkräfte beider Staaten führten gemeinsame Manöver aus. Kombinierte russische und chinesische Flottenverbände kreuzten vor der Halbinsel Shandong[wp]. Gemeinsame Panzerkolonnen rollten in der Nachbarschaft von Qingdao[wp], dem ehemals deutschen Kolonialfetzen aus dem Wilhelminischen Reich. Noch sind diese Übungen begrenzt und dürfen in ihrer Wirkung gegenüber dem amerikanischen und auch japanischen Flotten­potenzial nicht überschätzt werden. Aber Peking und Moskau haben Washington eindeutig zu verstehen gegeben, dass sie sich angesichts des Vordringens der NATO in das westlich Russland und mit Rücksicht auf die stets angespannte Lage im Umfeld der Insel Taiwan, nicht in einen Zweifronenkrieg verwickeln lassen. Chinesen und Russen bekunden eine Solidarität, die man zu Zeiten Mao Zedongs, der stets vor dem russischen Polarbären warnte, für unmöglich gehalten hätte. Wer kann es im Westen schon mit Präsident Putin aufnehmen, wenn er in den taoistischen Tempel Shaolin pilgert und als ausgewiesener Karatekämpfer sich freundschaftlich mit chinesischen Meistern dieser Kunst produziert.

(37:39) Die Halbinsel Port Arthur[wp] wird von einem idyllischen Strand gesäumt. Die Schlacht zwischen Russen und Japanern[wp], die sich auf dieser Höhe im Jahr 1905 abspielte, wird in musealer Form nachgestellt. Die japanischen Haubitzen sind auf die Bucht der damals zaristischen Festung gerichtet, wo die russische Fernostflotte vernichtet wurde. Heute geht es nicht mehr um Krieg oder akute Konfrontation zwischen dem Reich der aufgehenden Sonne und der ehemaligen Sowjetunion. Doch ein bedeutsames historisches Kapitel wurde an dieser Stelle aufgeblättert. In dieser Hütte hat am 2. Januar 1905 der russische Kommandant der Festung Port Arthur seine Kapitulation gegenüber den vorstürmenden japanischen Truppen des Tennō unterzeichnet. Von nun an konnte Wilhelm II., der sich als Admiral des Atlantik bezeichnete, seinen russischen Vetter, den Zar Nikolaus II. nicht mehr als Admiral des Pazifik begrüßen. Der Niedergang der weißen Weltherrschaft hat an dieser Stelle begonnen.

(39:00) Die Weltmacht China bekundet in der nordpazifischen Krisenzone entspannte Gelassenheit. Gleich neben dem Kriegshafen amüsieren sich Urlauber in einem riesigen Freizeitgebiet. Ein ausgemusterter Zerstörer der noch aus sowjetischen Arsenalen stammt, dient hier als Kulisse für hochzeitliches Glück. Wie hieß es einst im Wien der Habsburger, "Bella gerant alii, tu felix Austria nube.", "mögen andere Krieg führen, du glückliches China, heirate".

– Transkript eines aus dem Jahr 2006 stammenden ZDF-Dokufilms[2]

Literatur

  • Russland im Zangengriff: Putins Imperium zwischen Nato, China und Islam, Propyläen Verlag, 2006, ISBN 3-549-07265-1
    Mit dem ihm eigenen Gespür für kommende Krisenherde hat Peter Scholl-Latour die unruhigen Grenzregionen Rußlands bereist: im Westen Weißrußland und die Ukraine, die die Ausdehnung von NATO und EU nach Osten und den damit einhergehenden Reformdruck zu spüren bekommen, im Süden die zentral­asiatischen GUS-Staaten, in denen der Islamismus brodelt und die USA militärisch Fuß zu fassen suchen, in Fernost das chinesisch-russische Grenzgebiet, wo die dünn besiedelten sibirischen Weiten dem Bevölkerungsdruck und Wirtschaftsboom Chinas ausgesetzt sind. Dieser Zangengriff, dem sich Putins Rußland an seiner West-, Süd- und Ostflanke gegenübersieht, wird unvermeidlich extrem nationalistische Reaktionen hervorrufen. Zwischen Smolensk und Wladiwostok steuert alles auf eine weltpolitische Krise zu. Scholl-Latour versteht es glänzend, unmittelbare Erlebnisse und jahrzehntelange Erfahrungen zu einem eindringlichen Gesamtbild zusammenzufügen und deutlich zu machen, daß die Vorgänge in diesen Konfliktregionen uns unmittelbar betreffen.
  • Der Fluch der bösen Tat: Das Scheitern des Westens im Orient, Ullstein Taschenbuch, 2015, ISBN 3-548-37622-3

Einzelnachweise

  1. Sven Hauberg: China sichert sich Zugriff auf Hafen in Russland: Droht Putin der Verlust von Wladiwostok?, Merkur am 28. Juni 2023
  2. Youtube-link-icon.svg Russland im Zangengriff - Putins Imperium zwischen Nato, China und Islam - Peter Scholl-Latour (ZDF) (2006) (Länge: 40:18 Min.)
    Eine aus dem Jahre 2006 stammende Doku von PSL über Russland und sein Verhältnis zum Ausland.

Querverweise