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Gazi Çağlar

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Gazi Çağlar
Gazi Caglar.jpg
Geboren 1968
Twitter @GaziCaglar

Gazi Çağlar (* 1968) ist ein türkischer Politik­wissen­schaftler[wp] und Hoch­schul­lehrer in Deutschland. Çağlar lehrt als Professor für Soziale Arbeit[wp] an der Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst Hildesheim[wp] (HAWK).

Leben

Er kam 1980 nach dem Militärputsch in der Türkei[wp] in die Bundes­republik Deutschland und besuchte zunächst in Hamburg-Steilshoop die Gesamtschule. Anschließend studierte er Soziale Arbeit an der Evangelischen Fach­hoch­schule Hannover[wp] und danach Politische Wissenschaft, Geschichte und Religions­wissen­schaften an der Universität Hannover, an der er auch 2000 zum Doktor der Philosophie promoviert und 2005 für das Fachgebiet "Politische Wissenschaften unter besonderer Berücksichtigung internationaler und inter­kultureller Beziehungen" habilitiert wurde.[1] Seit 2005 ist Çağlar Professor für Soziale Arbeit am Standort Hildesheim der HAWK Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst Hildesheim/Holzminden/Göttingen.

Çağlar ist ein Kritiker der Theorie von Samuel P. Huntington[wp] vom Kampf der Kulturen[wp] und der Auffassung von Bassam Tibis[wp] zu Integration und Migration. Er sieht islamistische Bewegungen als "Produkte der kapitalistischen Moderne" und im Sozialismus die Alternative zum Kapitalismus, da letzterem die Barbarei[wp] inhärent sei.[2] Er plädiert für eine "sprachen­reiche Einwanderungs­gesellschaft", die Sprache dieser Zukunft sei aber noch nicht erfunden. Integration nur an Deutsch­kenntnissen zu messen, sei eine Absage an diese Einwanderungs­gesellschaft. Die Abhängigkeit der Integration von Deutsch­kenntnissen zu betonen, die Abhängigkeit des Erwerbs der deutschen Sprache von Integrations­erfahrungen aber zu verschweigen, sei ein Fehler.[3]

Veröffentlichungen (Auswahl)

Werke

  • Frieden für Kurdistan - Demokratie für die Türkei. (zweisprachig deutsch und türkisch, türkischer Titel: Kurdistan'da barış - Türkiye'de demokrasi.) Marino Verlag, München 1996, ISBN 3-927527-71-8
  • Staat und Zivilgesellschaft in der Türkei und im Osmanischen Reich. Frankfurt am Main, 2000, ISBN 3-631-37050-4
  • Der Mythos vom Krieg der Zivilisationen. Der Westen gegen den Rest der Welt. Eine Replik auf Samuel P. Huntingtons[wp] "Kampf der Kulturen"[wp]. Münster, 2002, ISBN 3-89771-414-0
  • Die Türkei zwischen Orient und Okzident. Eine politische Analyse ihrer Geschichte und Gegenwart. Münster, 2003, ISBN 3-89771-016-1
  • mit Hakan Bates Akar: Die USA im Nahen Osten. Geschichte und Gegenwart einer imperialistischen Beziehung. Münster, 2005, ISBN 3-89771-020-X

Artikel

Interviews

Standpunkte

In Zeiten knapper Kassen sind Deutschkurse und mutter­sprachlicher Unterricht für Migranten gefährdet. Der Autor hält es für falsch, den Stand der Integration nur an Deutsch­kenntnissen zu messen. Die deutsche Sprache als abgeschlossene National­sprache sei eine Fiktion, gefragt sei eine sprachen­reiche Einwanderungs­gesellschaft.

Die deutsche Sprache ist wieder aktuell. Spätestens seit der Pisa-Untersuchung sind ganze Abteilungen und Referate in Ministerien und zahlreiche gesellschaftliche Institutionen mit der Frage beschäftigt, wie die Sprach­misere unter den Migranten­kindern aufzuheben ist. Die folgenden unorganisierten Gedanken sind nicht als grundsätzliche Kritik an den Bemühungen von engagierten Sprach­praktikern auszulegen, die Bedingungen für Deutsch­lernen zu verbessern. Generell bin ich der Ansicht, dass hier staatlicherseits eine auf die Bedürfnisse der Adressaten abgestimmte Förderung viel zu wenig erfolgt.

Die Bedeutung der "Sprache im Integrations­prozess" hat zwei Unbekannte: Integration und Sprache. Integration kann heute alles heißen. Als Generalmetapher ist sie verwaschen. Im Zentrum der öffentlichen Debatten über Sprache und Integration steht immer nur die deutsche Sprache. Die vorherrschende Denkweise unterstellt, dass das Erlernen der deutschen Sprache unbedingte Voraussetzung für Integration sei. Diese These wird von Politik, Wissenschaft und pädagogischer Praxis immer penetranter und in großem unheimlichen Einklang vorgetragen.

Dieser einmütige Konsens verdeckt jedoch die Einseitigkeit der Debatte zur Rolle der deutschen Sprache im Migrations- und Integrations­prozess. In ihr geht es nämlich nicht um Sprache überhaupt, sondern um die scheinbar eine deutsche Sprache. Und sie ignoriert die Bedeutung anderer migrantischer Sprachen in Deutschland. Es fällt beim ersten Blick auf den Programm­ablauf gegen­wärtiger Sprach­konferenzen sofort auf, dass die Bedeutung und Rolle der mit­gebrachten Sprachen im Migrations­prozess kaum auftauchen. Fast alle vorgesehenen Referate und Workshops behandeln ausschließlich Fragen des neuen, also deutschen Spracherwerbs, was legitim und notwendig ist, allerdings unter dem Titel "Sprache und Migration" zu kurz greift.

Einseitig ist aber auch, "die Abhängigkeit der Integration von Deutsch­kenntnissen zu betonen, die Abhängigkeit des Deutscherwerbs von Integrations­erfahrungen aber zu verschweigen." Diesen Einseitigkeiten ist es anzulasten, dass immer wieder die migrantische Lern­willigkeit gefordert wird, während gesellschaftlich produzierte Barrieren unterbelichtet bleiben, die Folge ihrer Wohn-, Beschäftigungs- und Bildungs­situation sind.

Und nicht zuletzt versäumen öffentliche Appelle und Gesetz­entwürfe die schlichte Forderung an Politik, die Angebote zum Deutscherwerb qualitativ und quantitativ so auszubauen, dass auch die Betroffenen davon etwas merken und diese gern in Anspruch nehmen. Bildung und Zwang, wie z. B. ein nieder­sächsischer Gesetzes­entwurf zur "Förderung der Integration" vorsieht, vertragen sich nicht.

Haus des migrantischen Seins?

Die Sprache ist in der Tat von enormer Bedeutung: Heidegger[wp] nennt sie das "Haus des Seins". Ob aber die deutsche Sprache das Haus des migrantischen Seins ist, ist nicht nur vom Grad ihrer Sprach­beherrschung abhängig. Sprache und Gefühl haben eine innige Beziehung. Die migrantische Beziehung zur deutschen Sprache ist von zahlreichen Brüchen und Verletzungen traktiert, die von ihrer rechtlichen und gesellschaftlichen Diskriminierung herrühren. Das Erlernen der deutschen Sprache muss mit der Fülle ihrer sozialen Funktionen und ihrer konkreten Einbettung in das soziale Handeln zusammen gedacht werden. Die deutsche Sprache ist zwar das öffentliche Hauptmedium der Vermittlung gesellschaftlich konstruierter Wirklichkeit. In den migrantischen Lebens­welten hat sie aber diese exklusive Stellung nicht. Selbst ihre Herkunfts­sprachen haben hier keine exklusive Funktion. Vielmehr entstehen langsam aber sicher neue Variationen der Herkunfts­sprachen wie auch der deutschen Sprache.

Ich vermisse den Eifer, der bei den regelrechten, aber zumeist verbalen Sprachoffensiven zum Deutscherwerb gezeigt wird, auf anderen Gebieten der tatsächlichen Integration einer Gesellschaft. Die deutsche Sprache gerät so zu einem Sakrileg. Ihr Stellenwert als symbolisches Kommunikations­system übersteigt den Wert des Menschen, an den sie herangetragen wird. In Einwanderungs­gesellschaften entsteht daher ein unfruchtbarer polemischer Dialog zwischen den schönen Einheimischen und den hässlichen Heimatlosen, zwischen den Sprach­mächtigen und den scheinbar Sprachlosen.

Das Pendeln zwischen der Muttersprache und der deutschen Sprache, das im Migrations­prozess teilweise den Charakter des Pendelns zwischen Privatem und Öffentlichen hat, gestaltet sich im Prinzip danach, was Hegel vom "unglücklichen Bewusstsein" einmal sagte: Dass ich mich selbst verliere, wenn ich die Welt außer mir finde, und dass ich die Welt verliere, wenn ich mich selbst im Inneren finde. Welt soll hier, recht übertreibend, aber harmlos meinend, die deutsche Sprache meinen. Hier haben wir es mit einem dialektischen Verhältnis zu tun. Legt man den staatlichen Auftrag zur Förderung des Sprach­erwerbs allzu einseitig auf die deutsche Sprache fest, produziert man unglückliches Bewusstsein, das sich über kurz oder lang rächen wird.

Sprachlose menschliche Maschinen

Die herrschende Sprachmisere steht in einem unauflöslichen Kausal­zusammenhang mit der lebens­fremden Phrase "Deutschland ist kein Einwanderungs­land". Sie hat viel zu tun mit der kulturellen Fehl­leistung der deutschen Verwandlung des Gastes in den Gastarbeiter als sprachlose menschliche Maschine. Der Gast ist eine mythische Gestalt aller Kulturen und Religionen, und Gastfreundschaft ist konstanter Teil aller kommunikativen sozialen Riten. Die ideologische Figur des Gast­arbeiters, die sowohl den Gast herabwürdigt als auch den Arbeiter mystifiziert, verschleiert die Misere einer fein gegliederten industriellen Gesellschaft, die menschliche Handlanger der Maschine importiert, um primitive technische Vollzüge auszuführen.

Der Gastarbeiter als Verwandlung des Gastes zum menschlichen Werkzeug war in Deutschland lange Zeit ein seltsamer Fall von Gast, der möglichst nicht die deutsche Sprache erwerben sollte, um nicht ungewollte Wurzeln zu schlagen. Vielmehr diente und dient er immer wieder als nationaler Blitz­ableiter verdrängter sozial­psychischer Aggressionen. Wenn migrantisches Sein heute Sprach­probleme hat, dann ist das nicht nur eigenes Verschulden, sondern die Folge einer Politik, die es aus ideologischen und Kostengründen versäumt hat, die Werkzeuge als lebendige Menschen mit Sprach­fähigkeit anzunehmen und umfassende Integrations­angebote bereitzustellen. Und das, obwohl rechtzeitig dazu ermahnt wurde.

Europa errichtet jetzt Mauern um sich herum und verspielt damit seine zentrale und attraktive Stellung im ungerechten Weltsystem, dessen periphere Unwirtlichkeit die Hauptursache für Migration und Flucht ist. Denn wer sich einkapselt, wird irgendwann einfältig. Er verliert den Kontakt zum Anderen, der allein bereichernd ist. In den Überlegungen der Europäischen Union zum Schutz der sprachlichen Vielfalt in Europa kommen Migranten­sprachen kaum vor. Mauern sind anachronistische Abwehr­anlagen gegen außen, nicht gegen oben. Die migrantische Lage der Marginalisierung hat jedoch sehr viel mit oben und unten, mit politischen Macht­hierarchien und gesellschaftlichen Herrschafts­verhältnissen zu tun. Insofern ist es kein Wunder, dass in der ersten Testphase des vorschulischen Sprach­förder­unter­richts in Niedersachsen heraus­gekommen ist, dass auch eine ganze Reihe "deutscher" Kinder nicht ausreichend Deutsch sprechen. Sprache hat nämlich viel mit Herrschaft, Macht, sozialem und kulturellem Kapital zu tun.

Fiktion der Nationalsprache

Die deutsche Sprache als scheinbar abgeschlossene National­sprache ist eine Fiktion, tatsächlich zerfällt sie in regionale Dialekte, in schichten- und fach­spezifische Soziolekte und individuelle Idiolekte. Es ist nicht so, dass eine in grauen Urzeiten einmal homogen gewesene Ursprache zerfällt. Deutsche Ursprache ist ein folgenreicher, aber realitäts­armer Mythos. Vielmehr versucht die schrift­fixierte National­sprache alle Potentiale der Vielfalt der tatsächlich gesprochenen Sprachen der Menschen zu homogenisieren.

Insofern sind Sprachprobleme immer auch politische Probleme, Gegenstände von staatlicher Sprachplanung und systematischen Erziehungs­programmen. Nicht umsonst ist das Interesse an der Geschichte von Sprachen insbesondere im Zusammenhang mit der deutschen National­bewegung entstanden, in der Sprach­wissen­schaftler wie J. Grimm[wp] und F. Bopp[wp] zugleich glühende Nationalisten waren. Die vielen Sprach­typologien und Stammbaum­theorien fallen genau in die Zeit der Entstehung von National­staaten, also dem Versuch, ursprünglich getrennte Märkte und differente Sprach­kulturen mit Hilfe staatlichen Gewalt- und Erziehungs­monopols zu homogenisieren. Bis vor 300 Jahren haben diejenigen, die etwas auf sich hielten und sich danach als Deutsche bezeichnet haben, untereinander in Latein verständigt. Es dauerte bis zum Ende des 17. Jahrhunderts, ehe die Zahl der deutsch­sprachigen Drucke die der lateinischen überstieg. Das ist keine lange Zeit, auch wenn sie vor dem Hintergrund unserer eigenen, recht kurzen Lebens­geschichte wie eine Ewigkeit erscheint.

Bis heute haftet allen Integrations­bemühungen dieses deutsche Diktat der Homogenisierungs­maschine an, der sprachliche und kulturelle Vielfalt als eine zu bändigende Gefahr gilt. Sprachen sind nichts Statisches, nichts starr Fixiertes. Die deutsche Sprache entwickelt sich und wird auch von Migrantinnen und Migranten weiter verwandelt. Die "Kanak-Sprache" ist auch nicht einheitlich, vielmehr gibt es zahlreiche "Kanak-Sprachen", die die Vielfalt der tatsächlich gesprochenen deutschen Sprache(n) aufnehmen, auf höchst originelle Weise und spontan mit der Vielfalt der mitgebrachten Sprache(n) vermischen und so in einem Stadtteil von Berlin eine andere Ausdrucksweise hervor­bringen als in bayerischen Kommunen oder in Hamburg-Altona.

Die Migration ist eine kreative Situation, in der der Erfahrungs­horizont nicht durch Einheit, sondern durch Vielfalt und durch vernetzte Streuung bestimmt wird. Und die Migration ist eine schmerzhafte Situation. Sie lässt den Schmerz von tausenden Fäden täglich spüren, die mit der Sprache und Heimat verbinden und nun Stück für Stück durchschnitten werden. Die Migration ist aber zugleich eine Situation der Entbindung. Denn wo Fäden durch­schnitten werden, setzt auch Freiheit an. Die schiere Last der alltäglichen Mühen bloßer Reproduktion unter Migrations­bedingungen erdrückt aber zumeist diese Freiheit, bevor sie noch von der Ahnung ins migrantische Bewusstsein steigen kann.

Wir dürfen nicht der halbleeren Formel von der Chancen­gleichheit erliegen und annehmen, dass mit besseren Deutsch­kenntnissen sogleich die beruflichen Aufstiegs­chancen nachhaltig verbessert werden. Sonst wäre die große Arbeits­losig­keit unter Akademikern mit ausländischem Pass kaum erklärbar. Die taxi­fahrenden iranischen Akademiker in deutschen Großstädten sind inzwischen beliebte Objekte herum­reisender literarischer Produktion, die sozial­kritisch sein möchte. Auch nicht, dass sogenannte Ausländer teilweise dreifach so viel wie Deutsche von Arbeits­losigkeit betroffen sind. Die Migrantinnen und Migranten sind weder fensterlose Monaden noch leere Gefäße, die man nach Belieben füllen kann.

Das Erlernen der deutschen Sprache sorgt in der Tat für bessere Integration im Sinne "geordneter Verhältnisse". Denn mit Bezug auf die Gesellschaft sind die Leistungen der deutschen Sprache eindeutig integrativ. Mit Bezug auf die individuelle Erfahrung sind sie aber ambivalent: sowohl integrativ-entlastend als auch integrativ-zwanghaft. Dass Sprache individuelle Freiheit und soziale Gerechtigkeit fördere, ist kein sprach­immanenter Prozess, sondern Ergebnis gesellschaftlicher Veränderung in Richtung vermehrter Humanität.

"Die Sprache entsteht, wie das Bewusstsein, erst aus dem Bedürfnis, der Notdurft des Verkehrs mit anderen Menschen", sagt Karl Marx[wp]. Die Migrantinnen und Migranten werden auch Deutsch weniger aufgrund der Gesetze und Sprach­offensiven an der Hegemonie­front, sondern vielmehr aus ihrem Bedürfnis heraus erlernen. Die Befriedigung dieser fundamentalen Bedürfnisse gilt es zu fördern.

Adornos Opa sprach kein Deutsch

Die Migration ist auch ein Prozess des Sprach­verlustes. Die migrantischen Mutter­sprachen sind einem zunehmenden Funktions­verlust ausgesetzt, der gleichzeitig als sprachlicher Verarmungs­prozess erfahren wird. Die Migration beschädigt nicht nur Menschen, sondern auch Sprachen. Es gibt also auch ein Leiden an der Armut der eigenen Sprache. Verarmungs­prozesse der Sprache und Verrohungs­prozesse der kognitiven und emotionalen Welten hängen eng zusammen.

Viele der einzuschulenden Migranten­kinder sprechen nicht nur Deutsch schlecht, sondern auch ihre Mutter­sprachen. Auch die Eltern sind von diesem Prozess nicht ausgenommen. Sie leben nicht in einer sprachlichen "Zwischenwelt", wie zumeist diplomierte bescheid­wissende Ahnungs­losigkeit immer wieder feststellt, sondern in einer verarmten Sprachwelt. Dabei ist die Erkenntnis inzwischen alt, dass je besser die eigene Sprache beherrscht, desto besser die Zweitsprache gelernt wird.

Es gibt viele Arten, Menschen zu töten, sagte einmal Bertolt Brecht[wp]. Sprache hat etwas mit menschlicher Würde zu tun. Es gibt auch viele Arten, Sprachen zu töten. In vielen Bundesländern, so z. B. in Niedersachsen, sind die Überlegungen zur Neu­konzipierung des mutter­sprachlichen Unterrichts mit der Folge seiner faktischen Abschaffung fort­geschritten. Dabei ist es sicher: Wenn eine kommunikative und dialogorientierte Einwanderungs­gesellschaft gelingen soll, dann muss der mit der deutschen Sprache verbundene Universalitäts- und Absolutheits­anspruch zugunsten einer gewollten und geförderten sprachlichen Vielfalt aufgegeben werden. Wer an das Gewohnte sich klammert, fördert nicht eine humane Zukunft. Das Katastrophale der integrations­süchtigen Gewohnheit erkennt nicht, wer zutiefst in sie verstrickt ist.

Wer die Sprache von Vertriebenen, Flüchtlingen und Migrantinnen und Migranten absterben lässt, der verletzt ihre Würde. Denn die Bedeutung der Mutter­sprache steigt mit der leidvollen Erfahrung der Heimatlosigkeit in der Migration: Sprache wird zur Heimat, in der man "wohnt", wie Adorno[wp] in ihm eigener Weise sensibel ausdrückt , der gegenwärtig anlässlich seines 100. Geburtstages als "ein letztes Genie" gefeiert wird. Kaum einer weiß heute, dass Adorno Nachfahre eines Migranten ist, nämlich des Fecht­meisters Calvelli-Adorno[wp] aus Korsika, der Zeit seines Lebens kaum Deutsch sprach und aufgrund seiner dürftigen finanziellen Lage auch niemals den Status eines vollen Bürgers erreichte, weswegen er seine Frau in England heiraten musste. Das musste übrigens auch Adorno tun, der sich vor den National­sozialisten ins Exil "rettete".

Bevor voreilig neue deutsche Sprach­offensiven gestartet werden, sollten vielmehr die bereits gesammelten Erfahrungen immer wieder kritisch reflektiert werden. Es spricht für sich, dass eine systematische Evaluation bisheriger Deutsch­unter­weisung nicht stattfindet, obwohl die schein­objektive Evaluation als eine interessierte Spar- und Verschrumpfungs­keule überall eingesetzt wird. Wo die Einwanderungs­gesellschaft in 30 Jahren ankommen wird, weiß heute keiner. Würde sie sich aber ohne Zwänge und kulturelle Diktats­politik entwickeln können, spricht vieles dafür, dass sich in ihr immer mehr Arbeits- und Freizeit­gemein­schaften und eine Sprachen­vielfalt durchsetzen werden. Mit Goethe könnte man sagen: Die zukünftige Einwanderungs­gesellschaft muss eine der Wahl­verwandt­schaft und des Sprachen­reichtums, und nicht der Bluts­verwandt­schaft und deutscher Einheits­sprache sein. Die Migrantinnen und Migranten sind, auch wenn es ihnen kaum bewusst ist, die Vorboten einer solchen Zukunft. Die tatsächliche Sprache dieser Zukunft ist aber noch nicht erfunden.

– Gazi Caglar - Sprache der Zukunft[3]
Zitat: «Vor allem der in Deutschland ausgeübte institutionelle Rassismus bewirkt, dass türkeistämmige sich ausgeschlossen fühlen.»[4]

Einzelnachweise

Netzverweise


Dieser Artikel basiert auf dem Artikel Gazi Çağlar (15. April 2016) aus der freien Enzyklopädie Wikipedia. Der Wikipedia-Artikel steht unter der Doppellizenz GNU-Lizenz für freie Dokumentation und Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Unported (CC BY-SA 3.0). In der Wikipedia ist eine Liste der Autoren verfügbar, die vor Übernahme in WikiMANNia am Text mitgearbeitet haben.